Am Scheideweg

Die israelische Linke und die Nahostfrage

  • Tsafrir Cohen, Tel Aviv
  • Lesedauer: 8 Min.

Mit beißender Kritik reagierte das gesamte linke Spektrum in Israel auf die Entscheidung des US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump, Jerusalem als Hauptstadt Israels anzuerkennen und die US-Botschaft dorthin zu verlegen. Knesset-Mitglied Mossi Raz von der progressiven Partei Meretz empfahl Trump, lieber für eine für Palästinenser*innen wie Israelis akzeptable Friedenslösung zu streiten, statt den Konflikt weiter anzuheizen und das Leben vieler Israelis und Palästinenser*innen aufs Spiel zu setzen. Erst wenn ein Friedensvertrag mit den Palästinenser*innen geschlossen wird, solle die Botschaft nach West-Jerusalem ziehen und gleichzeitig in Ost-Jerusalem die Botschaft in Palästina eröffnet werden.

Ähnlich äußerte sich die mit 13 Abgeordneten drittgrößte Knesset-Fraktion, die Gemeinsame Liste, zu der die sozialistische Chadasch gehört und die als Sprachrohr der palästinensischen Staatsbürger*innen gilt, immerhin ca. 20 Prozent aller israelischen Staatsbürger*innen, und fügte hinzu, Trump legitimiere die Entrechtung der palästinensischen Bevölkerung der Stadt. Auch aus der Zivilgesellschaft regte sich Widerspruch. Die populäre linke Graswurzelinitiative »Standing Together« schrieb etwa: »Die Entscheidung Trumps hat nur eine Bedeutung: Er engagiert sich für den andauernden Versuch der israelischen Rechten, jede Möglichkeit des Friedens zu verhindern und die militärische Herrschaft über ein anderes Volk zu verewigen.«

Dennoch schlug Trumps Entscheidung lange nicht so hohe Wellen wie im - westlichen - Ausland. Dort wurde sie als spektakulären Schritt hin zur Beerdigung der Zweistaatenlösung wahrgenommen. Diese international bevorzugte Option, den israelisch-palästinensischen Konflikt dauerhaft zu regeln, umfasst

- den Rückzug Israels auf seine international anerkannten Grenzen bei geringem und vereinbartem Gebietstausch,

- für beide Seiten akzeptable Sicherheitsarrangements,

- die Regelung der palästinensischen Flüchtlingsfrage

- die Proklamation von Jerusalem als Hauptstadt beider Staaten.

Diese Option stimmt größtenteils überein mit der Arabischen Friedensinitiative von 2002, die sowohl von der Arabischen Liga als auch von der Organisation für Islamische Zusammenarbeit getragen wird, die bei einer solchen Lösung die Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und allen arabischen bzw. sich als islamisch verstehenden Staaten versprechen.

Progressive Kräfte in Israel erleben jedoch alltäglich die wachsende Diskrepanz zwischen dem, was auf dem internationalen Parkett verhandelt wird und den Entwicklungen vor Ort. In den 1967 besetzten Palästinensergebieten etabliert sich stetig - allen Friedensprojekten und -gesprächen zum Trotz - ein Projekt der permanenten israelischen Herrschaft.

In jenen 60 Prozent der Westbank, die Israel direkt unterstellt sind, und im von Israel annektierten Ostjerusalem wurden über eine halbe Million israelische Staatsbürger*innen völkerrechtswidrig angesiedelt, während die dort lebenden Palästinenser*innen in dicht bevölkerte Enklaven verdrängt werden. Diese werden von Palästinenser*innen zwar verwaltet, doch weder das aggressive Gebaren der im bitterarmen Gazastreifen herrschenden Hamas, noch der Präsidententitel von Mahmud Abbas, der der Palästinensischen Autonomiebehörde vorsteht, die die Westbank-Enklaven verwaltet, können darüber hinwegtäuschen, dass diese Enklaven in allen wesentlichen Aspekten von Israel abhängen.

Zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan gibt es also de facto nur einen Souverän, den israelischen Staat. Israels Regierung möchte die Kontrolle über die Palästinenser*innen behalten und die Ausweitung der Siedlungen ermöglichen. Zugleich fürchtet sie um die Vorrechte der jüdischen Bevölkerung, wenn alle Menschen im Land gleiche Rechte genössen. Denn schon heute gibt es hier keine jüdische Mehrheit mehr. Folglich ist ein verschlungenes System entwickelt worden, in dem die Einwohner*innen je nach Staatsbürgerschaft, Wohnort und ethnisch-religiöser Zugehörigkeit unterschiedliche Rechte besitzen - mit dem vorrangigen Ziel, den Palästinenser*innen Bürger- und andere Rechte vorzuenthalten.

In Jerusalem ist dies besonders augenscheinlich: Israel hat zwar Ost-Jerusalem annektiert, im Gegensatz zur Westbank und zu Gaza. Folglich leben die palästinensischen Jerusalemer*innen nach israelischem Recht in Israel. Sie besitzen aber in der Regel nicht die israelische Staatsbürgerschaft, sondern haben Daueraufenthaltsgenehmigungen; eine Tatsache, die von der Stadtverwaltung missbraucht wird, um Tausende mit administrativen Hebeln aus der Stadt zu vertreiben, etwa durch die Aufhebung des Aufenthaltsrechts bei einem längeren Studienaufenthalt im Ausland.

Die Marginalisierung und Benachteiligung der arabischen Bevölkerung Ost-Jerusalems ist in jedem Bereich erfahrbar: Anders als die Bewohner*innen Westjerusalems erhalten sie keine Post nach Hause, vor ihren Wohnungen gibt es selten Bürgersteige, und sie erhalten stets nur einen Bruchteil der staatlichen Dienste ihrer jüdischen Nachbar*innen.

Auf Baugenehmigungen warten sie vergebens, während um sie herum Abertausende Wohnungen für jüdische Siedler*innen entstehen. Die jüdisch-israelischen Bezirke umzingeln Ost-Jerusalem, und nur wenige Palästinenser*innen aus der Westbank dürfen mit Sondergenehmigungen nach Ost-Jerusalem gelangen, so dass das größte urbane Zentrum der Palästinenser*innen de facto von den anderen Palästinensergebieten abgeriegelt ist.

Und, eine weitere Verschärfung kündigt sich an: In Regierungskreisen reifen jetzt Pläne, die 300 000 Palästinenser*innen zu dreiteilen: 200 000 sollen »Jerusalemer« bleiben, während die restlichen 100 000 in zwei voneinander getrennten Enklaven, von Jerusalem separiert, ihr Dasein fristen müssten.

Die israelische Linke hat lange darauf gehofft, dass das befreundete Ausland auf diese tiefgreifenden Veränderungen wirksam reagiert. Doch sie sah, wie die USA auch während Barack Obamas achtjähriger Präsidentschaft ihre Schutzmachtfunktion gegenüber Israel weiter vertieften und der israelischen Regierung eine Carte blanche gaben, die Zweistaatenlösung weiter zu untergraben, während die EU, Israels zweitwichtigste Alliierte, den Amerikanern lediglich sekundierte und sich vom politischen Spiel zugunsten von blutleeren Plädoyers für die Zweistaatenlösung sowie Projekten zur Friedensförderung verabschiedeten.

Derart ernüchtert, und mit der Aussicht auf weitere Trump-Jahre, glaubt kaum jemand in der israelischen Linken an eine baldige Konfliktlösung. Deshalb setzt sie auf längerfristige Prozesse auf dem Weg zu einer gerechten Friedenslösung.

Hierfür müsste sich eine innerisraelische Opposition zu einer echten Alternative zur jetzigen Regierung entwickeln. Leider vermögen es Israels progressive Kräfte, allen voran die Gemeinsame Liste und Meretz, momentan kaum, ihre angestammte Wählerschaft zu mobilisieren, geschweige denn neue Wähler*innen anzusprechen.

Zu einer friedenswilligen Koalition müsste zudem die Arbeitspartei gehören. Doch statt einer noch friedenswilligen Bevölkerungsmehrheit eine echte Friedensalternative anzubieten und sich klar zu einer progressiven Front mit der palästinensischen Minderheit in Israel zu bekennen, entschied sich der neugewählte Parteivorsitzende Avi Gabbay dafür, sich den Positionen der stetig radikaler werdenden israelischen Rechten anzunähern. So verkündete er, dass er keine Siedlungen in der Westbank räumen würde und lobte Trumps Jerusalem-Entscheidung mit den Worten, ein vereintes Jerusalem sei wichtiger als ein Friedensabkommen mit den Palästinenser*innen.

Doch auch angesichts einer rechtsnationalistischen Diskurshoheit und einer mit den staatlichen Institutionen fest verbundenen Siedlerlobby wäre Israels Bevölkerungsmehrheit für einen Ausgleich mit den Palästinenser*innen, so das links-sozialdemokratische Forschungsinstitut Molad. Das Problem liege eher darin, dass Israel kaum einen Preis für die jetzige Politik zahlt, während ein gerechter Friedenslösungsvorschlag abschreckend wirkt angesichts der in der Folge zu erwartenden harten innerisraelischen Konflikte.

Der Preis für das Besatzungsregime könnte jedoch steigen: Die linke israelische Journalistin Amira Hass erinnert daran, dass koloniale Prozesse zumeist durch den Widerstand der indigenen Bevölkerung enden. Das politische System in den Palästinensergebieten fußt jedoch heute auf Patronage und, völlig von Israel und ausländischen Geldgebern abhängig, ist nolens volens zum Teil des Besatzungssystems geworden. Das könnte sich ändern, und die israelische Linke hofft, dass künftiger Widerstand gewaltfrei bleibt, die israelische Öffentlichkeit wachrüttelt und emanzipatorische Prozesse in beiden Gesellschaften fördert.

Schließlich fiele dem Ausland, allen voran Israels Alliierten USA und EU, angesichts der tiefen Asymmetrie des Konflikts eine gewichtige Rolle zu. Dabei können israelische Linke dem Aufstieg der Rechtspopulist*innen á la Trump auch Positives abgewinnen. Diese wischen Völker- und Bürgerrechtsfragen zugunsten des Prinzips der Macht des Stärkeren beiseite und sehen in Israels hegemonialen Rechtsnationalist*innen Verbündete in einem vorgestellten Kampf gegen den Islam.

Im Widerstand zu Trump gewinnt aber auch das US-amerikanische Oppositionslager an Konturen. Auch bezogen auf Israel. Gab es früher von links bis rechts eine Große Koalition zur bedingungslosen Unterstützung israelischer Regierungspolitik, so führt die allgemein zugespitzte Lagerbildung in den USA auch dazu, dass linke und liberale Kräfte Israels Regierungspolitik zunehmend in Frage stellen und erheblichen Druck zugunsten einer gerechten Konfliktlösung fordern. Besonders in den großen, traditionell linksliberalen jüdischen Gemeinden der USA finden progressive Israelis immer mehr Verbündete.

Israels Linke hofft zudem auf ein Umdenken in Europa. Sie wissen, dass auch in Europa die Positionen divergieren, dass illiberale Demokrat*innen, etwa jene, die in Polen oder Ungarn regieren, den israelischen Rechtsnationalismus mitunter als Vorbild betrachten. Deshalb hoffen sie, dass die europäische Linke - und hier ist auch die Linke im größten EU-europäischen Staat, Deutschland, aufgrund ihrer historischen Verantwortung und der tiefverzweigten Beziehungen zwischen Deutschland und Israel besonders gemeint - sich an die Spitze derjenigen stellt, die für Bürger- und Menschenrechte stehen.

Das soll sich in einer klareren symbolischen Positionierung äußern, aber auch in konkreten Schritten jenseits des guten Zuredens zugunsten einer Zweistaatenlösung. So regt das sozialistische Knesset-Mitglied Don Khenin die Anerkennung des Staates Palästina und von Ostjerusalem als palästinensische Hauptstadt an. Die bekannte Feministin, das Knesset-Mitglied Aida Touma-Suleiman, erinnert daran, dass die Beziehungen der EU zu Israel eine Menschenrechtsklausel beinhalten, die bislang kaum zur Geltung kommt. Und progressive Stimmen in Politik wie Zivilgesellschaft plädieren dafür, dass die Vorteile bi- und multilateraler Abkommen mit Israel weder für die völkerrechtswidrigen Siedlungen noch für ihre Einwohner*innen gelten dürfen.

Das würde, da sind sie sicher, die friedenswilligen Stimmen in Israel und Palästina beträchtlich stärken können. Es fragt sich nur: Werden diese Stimmen auch gehört?

Tsafrir Cohen leitet das Israel-Büro der Rosa Luxemburg Stiftung.

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